Im Jahr 2020 stand ich an einem entscheidenden Punkt meines Lebens. Nach 25 Jahren
wollte ich meine Firma und die vergangene Ära hinter mir lassen, um etwas Neues zu
wagen. Doch die Frage war: Was sollte dieses Neue sein? Da ich seit meiner Jugend
leidenschaftlicher Radfahrer und Radreisender bin, war die Antwort schnell gefunden –
eine Abenteuer-Radreise. Dies schien mir die ideale Möglichkeit zu sein, meine
Gedanken zu ordnen und meine Ziele für die Zukunft neu zu gestalten.
Das, was mich als Mensch auszeichnet, sind meine Disziplin, mein Durchhaltevermögen
und ein inneres Feuer, das mich antreibt, meine Vorhaben – welcher Art auch immer – in
die Realität umzusetzen. In meinen Augen gibt es nichts, was den Charakter so positiv
formt wie das regelmäßige Meistern neuer Herausforderungen, das Suchen und Finden
von Lösungen sowie das stetige Vorantreiben eines klaren Ziels.
So steckte ich mir den Zeitrahmen Mitte Februar bis Mitte Juni, also vier Monate, und
plante, autark und nachhaltig mit meinem Reiserad Europa auf eine völlig neue,
individuelle Weise zu erkunden. Nach sorgfältiger Planung und Materialtests war es
dann am 19. Februar so weit, trotz frostiger Temperaturen. Die Packtaschen waren
montiert, das Navi programmiert, und mit der Nase im Wind ging es von Übersee aus in
Richtung Südwesten. Mein Ziel war es, die iberische Halbinsel allein mit reiner
Muskelkraft zu umrunden. Der Höhepunkt dieser ersten Etappe sollte der Süden
Portugals sein, wo ich Anfang April meinen 50. Geburtstag feiern wollte, inmitten meiner
Familie und Freunde.
Und los ging’s…..
Zu Beginn war es entscheidend, meine Motivation trotz Kälte, Schnee und Wind
aufrechtzuerhalten. Mein Freund Dipo begleitete mich in der ersten Woche und
unterstützte meinen Start. Gemeinsam geht einfach alles besser. Unsere Route führte
uns über Miesbach, Bad Bayersoien nach Füssen und schließlich zum Bodensee.
Unterwegs besuchten wir Freunde, genossen warme Mahlzeiten und erfreuten uns an
der Wärme und Unterstützung. Gemeinsam setzten wir unsere Reise fort über das Jura-
Gebirge weiter nach Genf. Ab Genf war ich nun allein unterwegs, diesmal in Richtung
Frankreich.Ab dem Zeitpunkt, als ich alleine unterwegs war, hatte ich den festen Entschluss gefasst,
mein autarkes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Allerdings erwies sich diese Idee bei
winterlichen Temperaturen als weniger durchdacht. Trotz aller Kleidung und
motivierender Gedanken konnte ich in dieser kalten Nacht keinen Schlaf finden.
Obwohl die erste Nacht nicht gerade angenehm war, verbesserten sich die folgenden
Tage zum Glück stetig.Die Reise setzte sich fort, zunächst im Wechsel zwischen Übernachtungen im Freien,
Pensionen und privaten Unterkünften über Plattformen wie "warmshowers" und
"couchsurfing". Die Technik erwies sich wirklich als ein Segen für Reisende, nicht zuletzt
aufgrund der wunderbaren Navigationsmöglichkeiten.
Meine Route führte mich weiter südwestlich, durch Frankreich und das Rhône-Tal
hinunter. Das Wetter blieb allerdings launisch, kühl und windig, dennoch wurden die
sonnigen Lichtblicke häufiger. Ich genoss es, mich nun gut eingespielt zu haben. Täglich
legte ich im Schnitt etwa 100 km und rund 1000 Höhenmeter zurück. Ich hatte meinen
Rhythmus gefunden, der mir guttat. Mit gut organisierter Ausrüstung und Verpflegung
befand sich alles im Fluss.
Anfang März erreichte ich den Süden Frankreichs. Am 7. März, nach 16 Tagen auf
Reisen, überquerte ich die spanische Grenze in den Pyrenäen, bei erneut kühlem und
windigem Wetter. Die traumhafte Landschaft entschädigte mich jedoch für die Launen
des Wetters. Mein Weg führte mich nun weiter südlich Richtung Barcelona. Bis zu
diesem Zeitpunkt hatte ich kaum andere Radreisende getroffen. In Spanien ergaben
sich endlich erste Kontakte, und ich fand außergewöhnliche private
Übernachtungsmöglichkeiten. Hier fühlte ich mich herzlich willkommen, wurde bekocht
und durfte mich oft wie zuhause fühlen.Meine Routen blieben jedoch anspruchsvoll, geprägt von häufigem Regen, der zu
schlammigen Radwegen und unwegsamem Gelände führte. Das zwang mich teilweise
dazu, mein mit 45 kg schweres Reiserad zu schieben. Die Radreise spiegelte das Leben
wider – mal Regen, mal Sonnenschein, mal Gegen- und mal Rückenwind.Ein lustiges Erlebnis im tiefsten Spanien war die Übernachtung in einem
Gartenhäuschen, für das mir über einen "warmshowers"-Kontakt ein Schlüssel hinterlegt
worden war (siehe unten den Pfeil).
Ich hatte das Privileg, dieses kleine "Haus" ganz für mich allein nutzen zu dürfen, und die
vielen Beweise des Vertrauens, die mir während meiner Reise entgegengebracht
wurden, werden sicherlich mein Herz für den Rest meines Lebens prägen.
Die großzügige Gastfreundschaft der Menschen, die ich auf meiner Reise erlebt habe,
ging weit über meine Erwartungen hinaus. Sogar abends wurde ich von meinen
Gastgebern kulinarisch verwöhnt, und diese Momente des gemeinsamen Genießens
sind unvergesslich.
Pünktlich Anfang April erreichte ich die Südküste Portugals. Bis zu diesem großen
"Halbzeitziel" hatte ich bereits rund 3500 km zurückgelegt. Glücklich und dankbar
gönnte ich mir hier zwei Wochen "Urlaub". Ich besuchte Freunde, die aus meiner Heimat
Ruhpolding an die Algarve ausgewandert waren, und freute mich, endlich meine Familie
und gute Freunde wiederzusehen. Gemeinsam verbrachten wir unbeschwerte Tage,
genossen nun auch endlich sommerliche Wärme und feierten meinen Geburtstag und
das Leben.Die Reise führte mich dann entlang der Westküste Portugals Richtung Norden. Hier
hatte ich teilweise mit massivem Gegenwind vom Atlantik zu kämpfen, was sich eher wie
ein Rückwärtsschritt als ein Vorwärtsschritt anfühlte. Das spürten auch meine Knie, und
dieser Abschnitt gestaltete sich entsprechend herausfordernd. In Porto, im Norden
Portugals, bekam ich Besuch von meinem Freund Ingo, und ich gönnte meinem Körper
somit eine wohlverdiente kleine Auszeit.
Die Atlantikküste präsentierte sich rau und wild, aber zugleich wunderschön. Doch auch
die Sonne und die Wärme nahmen auf dieser Etappe Fahrt auf.Schließlich erreichte ich den Norden Spaniens und traf hier auf den Jakobsweg und
Santiago de Compostela. Nun wurde meine Reise richtig bunt. Die Begegnung mit
Pilgern und Radreisenden erfüllte mein Herz, da ich so viele positiv gestimmte
Menschen traf. Überall spürte man Freundlichkeit und Herzlichkeit. Ein fröhliches „buen
camino“ begleitete mich bei jeder Begegnung. Hier wurden nicht nur die Füße mit
Pflaster versorgt, sondern auch Seelen mit dem Spirit des Pilgerns geheilt.
Auf meinem Weg schloss ich Freundschaften mit
Mauritio, einem Kolumbianer, Nadja, einer Polin,
und einem Paar, Anita & Bruno aus der Pfalz. Jeder
hatte seine persönliche Geschichte und seinen
individuellen Antrieb im Gepäck. Es entwickelte sich
ein wunderbares Miteinander, ein reger Austausch,
gegenseitige Unterstützung, das Kennenlernen von
Geschichten und auch das schmerzhafte, aber
notwendige Verabschieden gehörte dazu.Mit Anita & Bruno setzte ich meine Reise für etwa eine Woche gemeinsam fort, da wir
uns für die gleiche Route entschieden hatten. Entlang der spanischen Nordküste
verbrachten wir nun die meisten Nächte im Zelt, auf Weinbergen oder neben dem
Camino. Jeden Tag genossen wir die Strecken und Pässe und meisterten gemeinsam
auftretende Herausforderungen. Zum Beispiel mussten wir Brücken überqueren, die
noch nicht fertiggestellt waren – ein echtes Abenteuer. Doch die beeindruckende
Landschaft und die persönlichen Erlebnisse machten jede Anstrengung um ein
Vielfaches wett.In Bilbao bekam ich erneut Besuch, diesmal alleine von Petra. Zusammen verbrachten
wir einige freie Tage im Baskenland mit Wandern, Yoga und köstlichem Essen. Petra
stattete mich mit einer "Sommerausrüstung" aus, denn Mitte Mai hatte die
Winterbekleidung nun endgültig ausgedient. Auch neue Radschuhe waren vonnöten,
da die alten aufgrund der Strapazen der letzten beiden Monate langsam aufgaben.
Dieser Austausch der Schuhe wurde nicht nur zu einem praktischen Bedarf, sondern
auch zu einem symbolischen Akt, denn mit neuen Schuhen setzte ich meinen Weg auf
neuen Pfaden fort.Voller Freude radelte ich gemeinsam mit Justus weiter nach San Sebastian und nun
erreichten wir Ende Mai wieder die Grenze Frankreichs, von dort fuhr ich wieder alleine
weiter, da Justus Richtung Nordkap radelte.
Jetzt ging es für mich bei an die 40 Grad Hitze durch den unteren Teil der Pyrenäen in
Richtung Provence. Mittlerweile befand ich mich auf meiner 69. Radetappe als ich
aufgrund der Anstrengung, der Hitze und dem Fehlen eines Übernachtungsplatzes
nahe der Verzweiflung war.
Mein persönlicher Retter in dieser verzweifelten Situation war ein französischer Pfarrer,
der meine Not erkannte. Er lud mich ein, mein Zelt in seinem Garten aufzustellen,
versorgte mich mit köstlichem Essen und gewährte mir die mehr als nötige Dusche und
Rast. Meine Dankbarkeit an diesem Abend kannte keine Grenzen. An jenem Tag, als die
Hitze fast unerträglich war und meine Kräfte zu schwinden drohten, wurde ich von einem
gütigen Menschen aufgefangen, und das machte diesen Moment zu einem der
bedeutendsten und herzerwärmendsten meiner gesamten Reise. Diese unerwartete
Hilfe wie ein Geschenk des Himmels.Ein paar Tage später, mitten im französischen Nirgendwo, lernte ich den „Odl Sepp“
kennen, ein bayerisches Original aus Amerang. Wir verbrachten spontan den Abend
miteinander im Biergarten, tauschten Geschichten aus der gemeinsamen Heimat aus.Wie schön war es, mal wieder bayerisch sprechen zu dürfen und verstanden zu werden.
In dieser unerwarteten Begegnung fand ich nicht nur Gesellschaft, sondern auch ein
Stück Heimat, das mir auf meiner Reise sehr fehlte.
Nun folgte ein emotionaler Moment, als ich auf meiner 76. Etappe meine
Hinreisestrecke kreuzte. Ein Deja-Vu, und plötzlich hatte ich wieder bekannten Boden
unter den Reifen. Die Hitze hielt an, während ich mich Tag für Tag Richtung Osten nach
Italien über Monaco vorwärts rackerte. In dieser Phase erlebte ich verrückte Tage – von
dekadentem Monaco zu ländlichem Italien, begleitet von Jubelmomenten, wenn ich der
Heimat näher kam, aber auch von Hitze und dem Wunsch nach Ruhe und Erholung.
Mit Entschlossenheit, einer positiven Grundhaltung und der Energie, mich
durchzusetzen, erreichte ich schließlich San Remo. Dort stieß ich auf einen legendären
Campingplatz, der mir nochmals zusätzliche 230 Höhenmeter bescherte. Diese
zusätzliche Anstrengung machte den Tag zwar besonders herausfordernd, aber die
atemberaubende Aussicht und die idyllische Lage entschädigten mich für all die Mühe.Die Reise führte mich weiter, schon fast die Heimatluft in der Nase, über Naturreservate
und die Po-Ebene zum Gardasee. Nach einem kurzen, trubeligen Aufenthalt ging es
hoch zum Brenner. Dort durfte ich einen demütigen Moment innehalten, als mir bewusst
wurde, dass mein Traum tatsächlich in Erfüllung gegangen war. Voller Dankbarkeit,
innerer Freude und einem Grinsen im Gesicht kam ich auf meiner vorletzten Etappe auf
dem Samerberg an. Hier wurde ich von Tom mit Weißbier und Schweinebraten
empfangen, und es fühlte sich an wie wieder daheim. Der Tag bzw. der Abend dauerte
lange und war mehr als gelungen. Am nächsten Tag wurde ich von meinem Freund
Klaus auf dem Rad nach Hause begleitet, aber davor durfte der Besuch bei Petra im
Café Rosa nicht fehlen. Endlich wieder dahoam.Gesund, ohne schwere Stürze oder
größere Defekte am Rad und nur mit
Muskelkraft, dem Rückhalt meiner
Lieben, meinem starken Willen und
einem tiefen Vertrauen legte ich in
vier Monaten rund 7012 Kilometer
und 62990 Höhenmeter zurück,
verteilt auf 94 Radltage.
Ein herzliches Dankeschön für all die
Begegnungen, für jede Form der
Unterstützung und für das wertvolle
Geschenk des Lebens, das mir solch
unvergessliche Erlebnisse schenkt.
In tiefer Dankbarkeit,
Alexander
Comments